Wenn die Gemeinde sich trifft, darf der Journalist auch darüber berichten — schliesslich gehts um Politik. Denkste!
Dieser Text entstand für das Recherche-Netzwerk investigativ.ch. Merci für die Hinweise der investigativ.ch-Mitglieder Christine Brand, Christian Bütikofer, Carmen Epp, Matieu Klee, Gian Ramming.
26.4.2014 ♦ Der Fall warf hohe Wellen. Die Bürgergemeinde von Benken (SG) verbot Journalisten kurzerhand an einer Versammlung teilzunehmen. «Novum: Ortsgemeinde schliesst Medien von Versammlung aus» titelte am 10. April die Südostschweiz. Der Grund: Eine Artikelserie der «Obersee Nachrichten» hatte die Gemüter der Ortsgemeindeveranwortlichen erhitzt. Dabei ging es um jahrelange Streitereien wegen eines Bauernhofs. Aufgrund von Prozessakten beschuldigte der Journalist der «Obersee Nachrichten» die Ortsgemeinde unter anderem, einen Bauer in den Tod getrieben zu haben und kreidete Vetternwirtschaft bei der Landvergabe an.
Ortsverwaltungspräsident Albert Glaus hatte genug. Gegenüber der Südostschweiz sagte er: «Die Volksseele in Benken kocht». Journalisten, egal von welchem Medium, seien deshalb nicht an der Versammlung erwünscht. Er könne die Sicherheit nicht garantieren. Gegenüber investigativ.ch schreibt Glaus, entscheidend für den Ausschluss der Presse seien anonyme Briefe an die Adresse von ehemaligen und amtierenden Ratsmitgliedern gewesen. Als Auslöser der Briefe bezeichnet er die «ungeheuerliche und teils unwahre» Berichterstattung der «Obersee Nachrichten».
Damit nichts anfangen konnte das St. Galler Amt für Gemeinden. Es rügte die Gemeindeverantwortlichen: «Wir haben sie explizit angewiesen, Medienschaffende künftig zuzulassen», sagte Leiter Lukas Summermatter gegenüber der Südostschweiz. Es sei noch offen, ob das ganze ein juristisches Nachspiel habe, sagt Summermatter gegenüber investigativ.ch. Medienschaffende hätten jedoch die Möglichkeit, gegen die Ortsgemeinde rechtliche Schritte einzuleiten.
Der Kanton St. Gallen regelt die Frage der Öffentlichkeit im Gemeindegesetz. Dieses hält fest, dass auch Nichtstimmberechtigte bei Versammlungen zugelassen sind. Davon können Journalistinnen und Journalisten in Graubünden nur träumen. Im kantonalen Gemeindegesetz fehlt ein entsprechender Artikel, die Situation ist also gesetzlich nicht geregelt. Thomas Kollegger, Leiter des Bündner Amts für Gemeinden, schreibt dazu, die Juristen seien sich einig, «dass die Bündner Gemeindeversammlungen nicht öffentlich sind». Dabei handle es sich um eine «langjährige, gefestigte Praxis». Jede Gemeinde könne jedoch selber entscheiden, ob Nichtstimmberechtigte an der Gemeindeversammlung teilnehmen dürfen.
«Der direkte Zugang zu den Fakten würde allen zugute kommen.»
Im Klartext: Im Graubünden bedeutet das für Journalistinnen und Journalisten regelmässig verschlossene Türen. «Die Surselva ist in der Regel besonders strikt, das Engadin hat eine etwas liberalere Praxis,» ärgert sich Investigativ-Mitglied und Chefredaktor von Radiotelevisiun Svizra Rumantscha Gian Ramming. Eine mühsame Geschichte, «weil wir immer nur über Umwege zu den Informationen gelangen und so eher dem Vorwurf ausgesetzt werden, einseitig und unvollständig zu berichten. Auch hier gilt: Der direkte Zugang zu den Fakten würde allen zugute kommen.»
Auf der anderen Seite gibt es auch Bündner Gemeinden, die ihre Türen öffnen, beispielsweise Vals. Für die Medien wichtig war dies insbesondere beim umstrittenen Verkauf der Therme. Wehe aber, die Gemeindeverantwortlichen wechseln ihre Meinung. Glücklich dann das Medium, dass ein Gemeindemitglied in den eigenen Reihen hat.
Gerade umgekehrt interpretiert wird die ungeregelte Situation im Kanton Zürich: «»Medienberichterstatter müssen stets die Möglichkeit haben, ihre im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe wahrzunehmen“, schreibt Alexander Locher, Jurist beim Zürcher Gemeindeamt. Künftig soll dies auch im Gemeindegesetz drin stehen, eine Revision läuft. Kein Wunder, schreiben mehrere investigativ.ch-Mitglieder auf einen internen Aufruf, dass die Versammlungen im Kanton Zürich «natürlich öffentlich» seien.
Ähnlich berichtet auch investigativ.ch-Mitglied Matieu Klee (seit kurzem bei Radio SRF, Regionaljournal Basel) «aus gefühlten 200 besuchten Gemeindeversammlungen» in Baselland. Einzig Bild- und Tonaufnahmen seien nicht selbstverständlich. «Ich erinnere mich an eine Gemeindeversammlung, an der sich ein Einwohner daran störte, dass ein Redaktor des «Regionaljournals» Voten aufnehmen wollte. Die Gemeindeversammlung stimmte seinem Antrag zu. Der Journalist musste damals sein Mikrofon wieder einpacken.»
Vergleichbare Regeln haben auch andere Kantone. Die Leute einer Gemeinde sollen sich politisch äussern können, ohne am nächsten Tag mit Bild und Name im Regionalfernsehen zu kommen. Der Kanton Bern, wo Gemeindeversammlungen öffentlich sind, schränkt das Recht für Bild- und Tonaufnahmen folgendermassen ein: «Jede stimmberechtigte Person kann verlangen, dass ihre Äusserungen und Stimmabgaben nicht aufgezeichnet werden.» (Informationsgesetz, Artikel 10) Eine gute Lösung, die in den meisten Fällen doch Aufnahmen ermöglichen sollte.
Eine erster, nicht vollständiger Überblick zeigt: Mehrere Kantone setzen bei Gemeindeversammlungen auf Öffentlichkeit. Jeder kann sich selber ein Bild machen, wie politische Entscheide zustandekommen. Grundsätzlich sollte der Fall eigentlich klar sein: In einer föderalistischen Schweiz, die die Gemeinde als wichtiges politisches Gremium versteht, müssen Versammlungen öffentlich sein. Dafür braucht es in Kantonen, die diese Öffentlichkeit nicht bereits explizit regeln, einen entsprechenden Gesetzesartikel.
Die Praxis von Gemeindevertretern schliesslich, missliebige Journalisten auszuschliessen, erinnert an den Science-Fiction-Streifen «Minority Report»: Bevor das Verbrechen begangen wurde, verhaftet man bereits den Kriminellen. Falls Medien Falsches berichten, können und sollen Gemeinden sich wehren, sei es mit einer Gegendarstellung, einer Beschwerde oder einer Klage. Eine erste Anlaufstelle ist der Presserat, die Beschwerde dort ist kostenlos.
Die St. Galler Ortsgmeinde Benken beispielsweise publizierte auf ihrer Internetseite eine Gegendarstellung. Ortsverwaltungspräsident Albert Glaus schreibt, man verzichte aber vorderhand «auf eine Klage gegen den Schreiberling der Obersee-Nachrichten». Den Grund wollte er nicht nennen.